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Lasst die Kinder doch im Supermarkt rumschreien

Kinder schreien manchmal - das muss nicht immer sofort ein Zeichen dafür sein, dass sie verzogen sind!
Kinder schreien manchmal - das muss nicht immer sofort ein Zeichen dafür sein, dass sie verzogen sind!

In den letzten Wochen habe ich viele Kommentare und Artikel zu einem Buch gelesen, das vor kurzem rausgekommen ist. In „Wenn die Tyrannen-Kinder erwachsen werden“  legt die Autorin Martina Leibovici-Mühlberger ihre Meinung dar, dass die heutigen Kinder von ihren Eltern so dermaßen verzogen werden, dass uns eigentlich keine Hoffnung mehr für die Zukunft bleibt. Sie beschreibt Fälle aus ihrer Psychotherapie Praxis, in denen die Kinder vollkommen aus dem Ruder laufen und nur noch Rabatz machen, ihre Eltern terrorisieren und immer alles durchsetzen. Und vor allem Fälle, in denen die Eltern dem gar nichts mehr entgegensetzen sondern im Bemühen, sich ja gut und gleichberechtigt mit den Kindern zu verstehen immer ja sagen und sich kaum noch auf Konflikte einlassen. Leibovici-Mühlberger ist der Meinung, dass diese Kinder in der Zukunft kaum in die Gesellschaft integrierbar sind und durch ihre Ich-Zentrierung Deutschland in den Untergang treiben werden (etwas überspitzt gesagt).

 

Ich will mich hier gar nicht über das Buch an sich aufregen, obwohl ich das auch etwas übertrieben finde. Ich muss zugeben, ich habe es auch gar nicht gelesen, da ich es hier in Nepal nicht bekommen kann. Ich kenne also nur die Pressebesprechungen und Interviews mit der Autorin. Was mich aber total ärgert und mir auch nicht mehr aus dem Kopf geht, sind die Kommentare die meistens unter diesen Artikeln stehen und die glaube ich auch gar nicht so im Sinne der Autorin wären. Ich bin der Meinung, dass die ein ziemlich gutes Bild der Einstellung vieler Deutscher zum Thema Kinder darstellen und dass in ebendieser Einstellung genauso ein Grund für problematische Erziehungsmethoden zu suchen ist. Jedenfalls nach meiner eigenen Erfahrung.

 

Unter fast jedem Artikel stehen mehrere Kommentare nach dem folgenden Muster:

 

Die Autorin hat vollkommen Recht, hab ich gestern noch mit eigenen Augen gesehen. Ich war im Supermarkt/Klamottenladen/beim Arzt (füge beliebigen Ort ein), und da ist ein Kind total ausgerastet, hat laut geschrien, sich auf den Boden geworfen bis seine Mutter nachgegeben hat. Kein Wunder, dass heutzutage alle Kinder verzogen sind, früher hätte es das nicht gegeben.

 

Aber stimmt das so? Hatten Kinder vor 40 Jahren keine Trotzphase? Ist es nicht ganz natürliches – wenn manchmal auch nerviges – Verhalten eines Kleinkindes, die Eltern durch Gebrüll dazu zu bringen, Schokolade zu kaufen/den Fernseher anzumachen/ein Spielzeug mitzunehmen? Und ist nicht erst die Reaktion der Eltern diejenige, die sich verändert hat? Und vor allem die Reaktion der Umgebung?

 

Ich kann natürlich nicht für die Allgemeinheit sprechen, aber ich muss sagen dass es mir in Deutschland immer unglaublich schwer gefallen ist, in der Öffentlichkeit auf einen Wutanfall meiner Tochter so zu reagieren, wie ich es für richtig halte: nämlich ihn mehr oder weniger zu ignorieren. Jedes Kind ist anders, aber Miriam steigert sich meistens total in Dinge rein, wenn sie merkt sie bekommt dafür Aufmerksamkeit. Wenn sie gegen eine Wand läuft, beruhigt sie sich schnell wieder und versucht es meistens auch nicht nochmal. Wenn sie aber natürlich merkt, dass ihr Gebrüll ihr die Schokolade eingebracht hat, kann ich die Uhr nach dem nächsten Ausbruch stellen. Ich glaube, das ist nichts Außergewöhnliches sondern ganz normales kindliches Verhalten, das man eben mal aushalten muss. Nur scheinen dass viele Leute vergessen zu haben.

 

Ich glaube, die Leute die jetzt den Artikel mit dem Kanon „Früher war alles besser“ kommentieren, sind genau diejenigen, die im Bus die Augen verdrehen, wenn ein Kind rumschreit und sich über Spielplätze in der Nachbarschaft beschweren. Und meiner Meinung nach sind solche Leute genauso verantwortlich für verzogene Kinder, weil man sich heutzutage als Elternteil nicht nur mit den Macken seines eigenen Kindes auseinander setzen muss, sonder auch noch mit den genervten und verurteilenden Mitmenschen, die offensichtlich denken Kinder hätten Ausknöpfe und können auf Befehl still und brav sein.

 

Natürlich brauchen Kinder Regeln und feste Formen, und die Eltern sind diejenigen, die dies umsetzen müssen. Aber wenn meine Regel ist, keine Schokolade im Supermarkt, meine Tochter als Reaktion auf das Nein sich auf den Boden wirft und brüllt und dann gleich zehn Leute da stehen, die das alle total unangebracht und „verzogen“ finden, ist es doch deutlich schwieriger, meine Regel als Mutter durchzusetzen. Und auch wenn mir diese Leute in 70% der Fälle egal sind, so gibt es auch viele Situationen, in denen ich dann nachgegeben habe, einfach damit Miriam still ist und ich mich mit diesen Leuten nicht mehr auseinandersetzen muss.

 

Ich werde nie die Situation vergessen, als wir das erste Mal nach sechs Monaten Nepal nach Deutschland zurückgeflogen sind. Miriam (damals 3) und ich waren tiefenentspannt, haben uns total gefreut meine Eltern wiederzusehen, waren aber auch ziemlich müde von dem langen Flug. Beim Aussteigen hat sich dann eine Frau zwischen und gedrängt, und als Miriam gemerkt hat, dass ich nicht hinter ihr war, ist sie stehen geblieben und hat nach mir gerufen. Die Frau hat sich dann total angesäuert umgedreht und meinte zu mir „Nehmen Sie doch mal ihr Kind da weg“. Wahrscheinlich ist die auch nach Hause gekommen und hat von der unmöglichen Mutter im Flugzeug erzählt, die das Aussteigen behindert hat weil sie ihr Kind nicht richtig betreut hat oder so. Und ich merke, dass ich in solchen Situationen mittlerweile von Anfang an defensiv agiere, weil ich so viele schlechte Erfahrungen gemacht habe. Und so fängt der Teufelskreis dann an. Wenn mich zehn Mal jemand anpampt, Miriam hätte sich falsch verhalten wenn der Fehler deutlich bei dem Erwachsenen lag, sehe ich vielleicht beim elften Mal Miriams Fehlverhalten gar nicht mehr, weil ich mein Kind schon aus Reflex verteidige.

 

Mir ist natürlich auch klar, dass viele Eltern ihren Kindern heutzutage einfach keine richtigen Grenzen mehr setzen und es definitiv viele Unterschiede zur Erziehung vor 40 Jahren gibt. Ich denke aber auch, dass es heutzutage deutlich schwieriger und komplexer ist, Kinder großzuziehen, und dass sowas auch durchaus eine Aufgabe für die Gesellschaft ist und gemeinsam bewältigt werden muss. Und wenn ein Teil der Gesellschaft nur noch der Meinung ist, Kinder sind laut, dreckig und nervig und das auch dementsprechend kommuniziert, muss man sich nicht wundern, wenn es Eltern schwer fällt, Orientierungspunkte zu finden.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Julia (Freitag, 27 Mai 2016 11:08)

    Wenn ich bedenke, dass meine Mutter mich früher bei Schmoll- und Trotzanfällen egal wo einfach hat stehen lassen und um die nächste Ecke (oder das nächste Regal) gebogen ist oder mich auch schon mal an einer Parkbucht an der Landstraße aus dem Auto geschmissen hat, wenn's ihr zu viel war (nur um dann natürlich ein paar Meter weiter doch auf mich zu warten oder einmal einen U-Turn zu machen und mich wieder einzusammeln)....würde ich glatt behaupten, das war effektiver als dieses ständige Betüddeln und Nachgeben, nur damit das Verhalten des Kindes andere Menschen nicht stört. *SO* verzieht man seine Kinder nämlich - davon abgesehen, dass man sie zu ziemlich angepassten, uniformen Wesen formt, die immer denken, es allen anderen recht machen zu müssen. Ist vielleicht ein bisschen drastisch formuliert und als Nicht-Mutter hab ich da gut reden, ist aber meine Meinung.
    Ich bin zwar auch oft genervt von kreischenden Kleinkindern, aber im Notfall gibt's ja Kopfhörer und Musik :D (Davon ab bin ich von sogenannten Helikoptereltern und nörgelnden, keifenden Früher-war-alles-besser-Rentnern mindestens genauso genervt von Zeit zu Zeit. Man kann eben nicht immer alles ausblenden. Welcome to the world: Hier leben Menschen! :D )
    Ich finde, Du machst das absolut richtig. Würde ich wohl genauso machen. Oder so: https://youtu.be/2NwaxPR5eVs :D :D :D
    LG

  • #2

    Eva (Freitag, 27 Mai 2016 15:34)

    Hallo Julia,

    vielen Dank für deinen Kommentar. Ja, Regeln sind nötig und man sollte sich so oft wie möglich daran halten, aber leider ist das in der Realität nicht immer so einfach... Ich hab mich viel zu oft durch die Reaktion der Umgebung zu Dingen hinreißen lassen, die ich eigentlich gar nicht mit meiner Tochter machen wollte, einfach weil der Druck manchmal doch sehr hoch ist und man auch nur eine bestimmte Menge aushalten kann... Ich fände es halt schön, wenn Eltern in der Gesellschaft etwas mehr Verständnis entgegen kommen würde - gleichzeitig müssen Eltern eben auch ihre Rolle als Erziehungsberechtigte annehmen und ausfüllen. Genau, und Leuten die sich über Miriams Lautstärke beschweren, werde ich ab jetzt einfach Kopfhörer empfehlen :-)
    Eva