In Sekunden muss ich eine Entscheidung treffen: den kurzen Weg durchs Haus, oder den langen über die Terrasse. Um mich herum ist das Chaos ausgebrochen. Menschen schreien, Tische fallen um, Geräusche die ich nicht zuordnen kann übertönen alles. Ich drehe mich um und renne über die Terrasse. Umgefallene Stühle liegen in meinem Weg, Taschen liegen herum – ein kleiner Teil meines Gehirns überlegt die Stühle wieder aufzustellen, während der andere schreit:“ Lauf, lauf um dein Leben“. Mit Mühe kann ich die Holzbrücke überqueren, die die Terrasse mit dem festen Grund verbindet. Obwohl fester Grund gerade relativ geworden ist, alles bewegt sich. Links sehe ich wie das Schilf aus dem Teich, der sonst so friedlich hinter meinem Marktstand liegt in die Luft geschleudert wird. Und in der Sekunde in der mein Fuß den Stein berührt bricht die Panik über mich herein: Wo ist Miriam.
Das Gorkha Erdbeben
Heute vor drei Jahren hat das große Gorkha Erdbeben mit der Stärke 7,8 auf der Richterskala Nepal erschüttert. Mehr als 9000 Menschen starben und ganze Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Und Miriam und ich waren mitten drin. Nepal ist seit 2012 unser zu Hause, und natürlich wussten wir alle, dass ein großes Erdbeben irgendwann kommen würde. Wenn es dann aber soweit ist, ist doch alles anders und man kann sich gar nicht wirklich vorbereiten.
Das schlimmste für uns beide war eindeutig, dass wir nicht zusammen waren als es passierte. Ich war auf dem Farmers Markt und habe Fisch verkauft, Miriam war mit Tilak in einem Supermarkt und für ca. 20 Minuten wusste ich nicht, ob es den beiden gut geht. Solch eine Panik habe ich in meinem Leben noch nie empfunden, und andere Menschen die mich in diesen 20 Minuten erlebt haben sagen mir noch heute, dass ich absolut unter Schock stand. Erst nachdem ich Tilak dann endlich telefonisch erreichen konnte, wusste ich dass die beiden überlebt hatten.
Miriam ging es ähnlich, sie hat alles wie in Trance erlebt bis sie bei mir war. Im Supermarkt ist der Strom ausgefallen, Tilak hat sich auf sie geworfen und sie so vor den fallenden Waren geschützt – zum Glück nur Spielzeuge, da Miriam ihn kurz vorher überredet hatte, nochmal kurz zu gucken ob es nicht eine neue Barbie gibt. Im Anschluss sind die beiden dann aus dem zweiten Stock auf den Parkplatz gegangen, wo viele Verletzte und blutüberströmte Leute rumliefen, die gefallen waren. Die ganze Zeit hat Miriam nicht geweint, aber als sie mich dann gesehen hat, ist sie richtig in sich zusammengefallen.
Die ersten Tage danach
Die ersten Tage nach dem Beben haben wir draußen verbracht, oder jedenfalls größtenteils. Zum Glück hatte ich noch bevor die Telefonverbindungen ausgefallen waren meine Familie erreicht, so dass auch die wussten dass wir überlebt hatten. Zuerst auf einem Parkplatz, dann auf einem Feld in der Nähe unseres Hauses unter einer Plastikplane haben wir dann die starken Nachbeben abgewartet – in die Häuser hat sich niemand getraut. Tilak ist nach Kaule gefahren, dort hat kein einziges Haus das Beben überstanden und die Menschen haben unter freiem Himmel geschlafen. Die erste Nacht habe ich mit 100 Menschen, die ich vorher nur vom Sehen her kannte unter einer Plane verbracht, Miriam schlafend auf meinem Schoß. Von irgendwem bekamen wir Essen, ein Glas Wasser und eine Decke. Dankbarkeit vermischte sich mit Verzweiflung und Erschöpfung, während unter mir die Erde rumpelte.
Den nächsten Tag haben wir apathisch draußen verbracht. Keiner traute sich in die Häuser zurück, es gab nichts zu tun, allein schon durch die engen Straßen zu laufen schien zu gefährlich. Einmal sind Miriam und ich bis zur Ringroad gelaufen, und auf dem Rückweg wurden wir von einem starken Beben überrascht und wussten nicht wohin. Rennende Menschen zogen uns dann mit um ein paar Ecken, bis wir wieder auf einem Feld standen, auf dem wir sicher waren. Nach einer Stunde sind wir dann nach Hause gerannt und haben uns anschließend nicht mehr aus dem Straßengewirr getraut.
Ein Tag Apathie war aber das Maximum, das ich ertragen konnte. Am nächsten Tag habe ich in den Arbeitsmodus gewechselt. Wir hatten immer noch nichts von Tilak gehört, aber ich wusste dass in Kaule kein Haus mehr steht, also habe ich angefangen Zelte zu organisieren. Nach zwei Tagen habe ich dann auch einen Jeep gefunden, mit dem ich nach Kaule fahren konnte. Die Situation war schrecklich. Unter Plastikfetzen schliefen ganze Familien draußen, es hatte mehrere Todesfälle gegeben, alle Häuser in Ruinen. Auch unser Haus war zerstört – und es hat Wochen gedauert bis ich die Kraft aufbringen konnte, unsere Habseligkeiten aus dem Haus zu holen und endgültig zu akzeptieren, dass unser Haus nicht mehr existiert. Die Hoffnungslosigkeit war erdrückend.
Warum wir geblieben sind
In den nächsten Wochen haben wir dann in Zusammenarbeit mit dem Verein Kaule e.V. und mit der Unterstützung von meiner Familie, Freunden und vielen Spendern die 300 Familien in Kaule mit Lebensmitteln und Notunterkünften versorgt, ein medizinisches Camp organisiert sowie ein Playcamp für die Kinder, damit diese mal auf andere Gedanken kommen. Ich habe kaum noch geschlafen und ununterbrochen gearbeitet – die Belastung war heftig. Miriam hat die meiste Zeit bei Freunden verbracht, abends waren wir zusammen und manchmal hat sie sogar geholfen, die Pakete zu packen. Sie war auch einige Male mit in Kaule und hat die Situation miterlebt.
Viele Leute haben mich gefragt, warum wir denn geblieben sind und nicht das Land verlassen haben. Ich glaube aber weiterhin, dass es eine richtige Entscheidung war, zu bleiben und zu helfen. Auch und vor allem für Miriam. Nachdem wir das erste Erdbeben überlebt hatten, habe ich keine akute Gefahr mehr für unser Leben gesehen. Nepal ist unser zu Hause, und für Miriam war es wichtig zu sehen, dass man trotz der scheinbar hoffnungslosen Situation etwas tun kann. Sie wollte unbedingt unser Haus sehen, die Häuser ihrer Freunde, wollte wissen was jetzt passiert. Und es hat ihr geholfen zu merken, dass wir Einfluss auf das Geschehen hatten, dass wir das ganze umdrehen konnten und Dinge ändern konnten. Auch wenn diese ersten Wochen unglaublich anstrengend waren, so glaube ich doch immer noch dass sie Miriam in der Verarbeitung des ganzen sehr geholfen haben.
Wie geht es uns jetzt?
Drei Jahre danach ist das Beben immer noch präsent – vor allem natürlich heute am Jahrestag. Leider ist in Nepal auch noch nicht allzu viel passiert in Hinsicht auf Wiederaufbau – in Kaule leben immer noch sehr viele Leute in den Notunterkünften, die sie vor dem ersten Monsun gebaut haben. Kosten für Baumaterial sind total durch die Decke gegangen, so dass viele Menschen sich den Neubau ihrer Häuser einfach nicht mehr leisten können.
Miriam hat das Ganze gut verarbeitet. Wir waren im Anschluss auch bei einer Kinderpsychologin, und die sagte auch dass Kinder Naturkatastrophen eigentlich ganz gut wegstecken – immerhin passiert hier allen das Gleiche und dann ist es wohl einfacher zu verarbeiten. Unsere Beziehung ist enger geworden, ich glaube uns ist einfach beiden klar geworden, dass Katastrophen passieren können und dass wir uns nah beieinander brauchen.
Ich habe mehr Probleme. Einerseits hat das direkte arbeiten nach dem Beben mir geholfen, nicht in ein riesen Loch zu fallen, andererseits hat mir das auch die Möglichkeit genommen, vieles zu verarbeiten. Ich war ja in der gleichen Situation wie die Menschen, für die ich gearbeitet habe, ich hatte mit meinem eigenen Trauma und Schock zu kämpfen und habe auch viel an materiellen Gütern verloren. Viel Platz hatte diese Verarbeitung aber nicht, daher bin ich wahrscheinlich noch ein wenig länger damit beschäftigt. Und ich merke, bestimmte Dinge gehen einfach nicht weg. Ich kann mich nicht in Hallen aufhalten, in denen der Boden vibriert. Bei Geräuschen, die ich nicht zuordnen kann bekomme ich immer noch schnell Panik und das Beben ist doch ständig in meinen Gedanken. Aber auch das wird sicherlich besser.
Der 25.4.2015 wird uns für immer in Erinnerung bleiben. Er hat uns und unsere Beziehung geprägt und wird immer präsent bleiben – auch wenn die Zeit natürlich viel heilt. So klischeehaft das klingt – er hat uns aber auch gelehrt, dass das Leben vergänglich ist, und dass der Moment in dem wir jetzt gerade sind kostbar ist. Und er hat uns gezeigt, dass das wichtigste das wir auf der Welt haben, wir gegenseitig sind! Heute werden wir sicherlich auch wieder Kerzen anzünden und derer gedenken, die diesen Tag nicht überlebt haben.
Wir unterstützen natürlich weiter den Wiederaufbau. Mit unserer 1000 K Challenge sammeln wir Spenden für den Bau eines Gemeindezentrums, da alle Büros der lokalen Vereine und Organisationen zerstört worden sind. Im Zentrum soll es auch einen Lernort mit Hausaufgabenbetreuung für die Kinder geben. Wenn ihr uns dabei unterstützen möchtet, freuen wir uns natürlich sehr. Entweder durch eine Beteiligung an der Challenge oder eine direkte Spende an den Verein über betterplace. Vielen Dank!
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Ines (Mittwoch, 25 April 2018 06:29)
Ich denke jeder wird heute in Nepal unweigerlich an diesen Tage und die Zeit danach denken. Ich hatte es "besser" als Du, ich war mit dem liebsten Menschen zusammen in diesem Moment.
Erschütterungen jeder Art sind noch heute ein Problem für mich. Das eine Jahr danach als wir in Nepal waren, war hart. Mit der Dunkelheit kam die Angst. Am Tag ging es. Aber immer mit Blicken nach Oben zu hohen Gebäuden und der alternativ Suche nach einem freien Platz, was in Kathmandu nicht leicht ist.
Aber eins stimmt - solch ein Erlebnis schweißt zusammen! Und das ist doch was Gutes!
Viele Grüße Ines
Eva (Mittwoch, 25 April 2018 06:50)
Liebe Ines,
oh ja, die Gedanken sind heute auf jeden Fall besetzt. Und ich komme auch nicht mit Erschütterungen klar, und vor allem nicht mit Gerappel... Vor ein paar Wochen waren wir in einem Restaurant, und als es anfing zu regnen haben die das Schiebedach zugemacht. Ich hab das aber nicht gesehen und hab nur das Geräusch gehört, und da war ich schon fast unter dem Tisch bis Miriam mir erklären konnte, was das war... Einige Dinge bleiben eben einfach.
Viele Grüße und alles Gute für heute!
Eva