Freiwilligenarbeit im Ausland hat sich in den letzten Jahren zu etwas entwickelt, was für viele zum Reisen dazu gehört. Als ich vor fast 15 Jahren nach dem Abi in Ecuador in einem ökologischen Reservat gearbeitet habe, war ich in meinem Jahrgang noch die absolute Ausnahme, aber heute gehen unglaublich viele Jugendliche nach der Schule oder auch noch während des Studiums ins Ausland, um dort neben Urlaub zu machen auch noch etwas Gutes zu tun.
An sich finde ich das total klasse, Freiwilligenarbeit war für mich und meinen Werdegang sehr wichtig und hat mein ganzes Leben geprägt. Auch wenn man sich natürlich bewusst sein muss, dass es in solchen Aufenthalten eher um das eigene Lernen gehen sollte als darum, anderen etwas beizubringen oder zu helfen, kann so eine Zeit im Ausland echt eine wichtige Rolle spielen. Trotzdem gibt es eine bestimmte Art von Freiwilligenarbeit, die ich absolut nicht unterstützen kann und über die ich deshalb jetzt auch diesen Artikel schreiben möchte: Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern.
Auf den ersten Blick klingt die Idee ja super: Man hilft armen und hilflosen Kindern in Waisenhäusern durch seine Arbeit und leistet vielleicht sogar noch durch einen finanziellen Beitrag, dass das Waisenhaus weiter betrieben werden kann. Leider ist das Ganze nicht ganz so simpel.
Gute Absicht mit Konsequenzen: die Waisenhausindustrie
Das erste große Problem im Zusammenhang mit Waisenhäusern im Allgemeinen und Freiwilligenarbeit dort im speziellen ist die Tatsache, dass es mittlerweile viele Waisenhäuser in der ganzen Welt gibt, die nur existieren da damit Geld verdient werden kann.
Die Methoden, die verwendet werden, sind teilweise sehr perfide. Die Betreiber haben die Erfahrung gemacht, dass Touristen und Freiwillige durchaus bereit sind, für bedürftig aussehende Waisen Geld zu spenden, durch welches dann das Waisenhaus weiter betrieben werden kann und Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Oftmals wandern Spenden jedoch auch direkt auf das Konto der Betreiber. Problematisch sind neben der Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern natürlich auch die Spenden oder jegliche andere finanzielle Unterstützung.
Dieses Geschäftsmodell hat eine regelrechte Nachfrage nach Waisenkindern verursacht, die durch Vollwaisen gar nicht mehr gedeckt werden kann. In Ländern wie Nepal, Ghana oder Kambodscha kommt es somit zu der paradoxen Situation, dass ein Großteil der Kinder in Waisenhäusern gar nicht dort sein müsste, da sie noch lebende Familienmitglieder und teilweise sogar Elternteile haben. Die Organisation Lumos schätzt, dass von 8 Millionen Kindern weltweit, die in Institutionen untergebracht sind 90% keine Vollwaisen sind. Eltern werden durch die Versprechungen einer guten Bildung für den Nachwuchs dazu verleitet, ihre Kinder in die Einrichtungen zu geben und verlieren im Anschluss oftmals den Kontakt. Armut ist hier eindeutig der Push-Faktor, der Eltern in schwierigen Situationen dazu verleitet die eigenen Kinder in die Obhut anderer zu geben.
Auch andere Unterstützung von Waisenhäusern ist problematisch
Hier in Nepal habe ich im Jahr 2016 ein Interview mit Martin Punaks geführt, der damals Landesdirektor der NGO Next Generation Nepal war. Diese Organisation unterstützt die Regierung bei Rettungsaktionen, in denen Kinder aus schlecht geführten Waisenhäusern geholt werden, um wieder mit ihren Familien zusammengeführt zu werden. Das ist allerdings gar nicht unbedingt so einfach, da die Eltern sich ja oftmals gar nicht bewusst sind, dass sie etwas getan haben, was ihren Kindern Schaden zugefügt hat. Auch müssen natürlich die Gründe vor Ort bekämpft werden, die erst zur der Situation geführt haben, dass die Kinder in Waisenhäuser gegeben wurden. „Die Familien der Kinder zu finden, ist manchmal wie Detektivarbeit“, erzählte Punaks mir damals. „Oftmals werden Papiere gefälscht oder vernichtet, sobald Kinder in Waisenhäusern aufgenommen werden, so dass es nicht einfach ist, die biologischen Eltern oder die Familie aufzuspüren.“
Auch mit Frank Seidel, dem Gründer des Freiwilligenportals wegweiser-freiwilligenarbeit.com habe ich im Jahr 2016 zum gleichen Thema gesprochen. Seine Organisation war die erste in Deutschland, die sich so deutlich gegen Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern ausgesprochen hat. Er machte mich auf eine andere Dimension des Problems aufmerksam: „Es ist ja nicht nur die Freiwilligenarbeit, die Probleme macht. Genauso sind es Reisen in Waisenhäuser, z.B. durch Kirchengemeinden organisiert oder Spendenaktionen zu Weihnachten.“ Auch wenn die Spender meistens nur die besten Absichten hätten, so seien sie doch Teil des Problems, da sich Waisenhäuser so zu Geschäftsmodellen entwickelt haben, die nicht mehr nur das Kindswohl in den Vordergrund stellen.
Kinder gehören in die Familie - nicht in eine Institution
Hinzu kommt auch noch, dass Freiwillige einfach oft nicht qualifiziert sind, um mit Waisenkindern zu arbeiten. Kinder die – aus welchen Gründen auch immer – in Institutionen untergebracht werden, brauchen Stabilität und Regelmäßigkeit. Eine zuverlässige Bezugsperson ist unglaublich wichtig für diese Kinder, und diese Rolle können Freiwillige, die maximal ein paar Monate lang bleiben einfach nicht ausfüllen. Es gibt mittlerweile viele Berichte von Kindern aus Institutionen, die davon berichten wie benutzt und verlassen sie sich fühlen, wenn die Freiwilligen die mit ihnen spielten und sich mit ihnen beschäftigten nach ein paar Wochen oder Monaten einfach wieder weg sind. Und wenn so etwas auf einer konstanten Basis passiert, trägt es nur noch dazu bei, dass es den Kindern später schwerer fällt Bindungen einzugehen.
Andere Studien zeigen, dass Kinder immer besser in Familien aufgehoben sind, als in Institutionen. Selbst wenn die Familienverhältnisse nicht ideal sind, so ist das Umfeld jedoch – so lange keine Gewalt herrscht – immer einer Institution vorzuziehen. In unserem Gespräch äußerte Martin Punaks die Vermutung, dass es in Nepal deutlich billiger wäre, die Familien vor Ort zu unterstützen, als Kinder in Waisenhäusern zu betreuen. Warum steigt dann die Anzahl von Waisenhäusern im Land trotzdem weiterhin an? Wahrscheinlich liegt der Grund auch darin, dass es viel schwieriger ist, Geld für Projekte einzuwerben, die in den Dörfern unspektakuläres, aber sehr sinnvolles Leisten. Waisenhäuser mit bemitleidenswerten Kindern lassen sich eben besser vermarkten. Und es lässt sich so auch viel eher ein Profit für viele Mittelsmänner einfahren.
Freiwillige sind oft überfordert
Freiwilligenarbeit mit Kindern allgemein ist meiner Meinung nach auch immer nur dann in Ordnung, wenn sie in einem kontrollierten Rahmen stattfindet. Dies ist in Waisenhäusern jedoch oftmals nicht gegeben, wo Freiwillige Rollen ausfüllen müssen, für die sie nicht qualifiziert sind. Mit den Kids Fußball spielen oder bei den Hausaufgaben machen helfen ist eine Sache, aber was macht man wenn es Streitigkeiten gibt, es vielleicht sogar zu Handgreiflichkeiten kommt? Wie verhält man sich in einem medizinischen Notfall, oder wenn etwas anderes Unvorhersehbares passiert?
Ich habe jetzt für mehr als sieben Jahre mit Freiwilligen zusammengearbeitet, und der Großteil meiner Erfahrungen ist positiv. Es sind aber auch immer mal wieder Leute dabei, die ihre Verantwortung für die Tätigkeit, die sie im Projekt ausüben sollen nicht ernst nehmen oder Mist bauen. Ich kann nicht zählen, wie viele Kleinprojekte bei uns schon schief gegangen sind, weil Freiwillige sich nicht genau an meine Anweisungen gehalten haben oder unkonzentriert gearbeitet haben. Wenn deshalb Pflanzen vertrocknen oder eine Wand schief gebaut wird (wie in dem Fall der Projekte, mit denen ich gearbeitet habe) ist das zwar ärgerlich, aber unterm Strich keine Katastrophe. Wenn man allerdings mit Kindern arbeitet, dürfen solche Fehler nicht passieren und können wirklich große Probleme verursachen. Daher bin ich persönlich der Meinung, dass ungelernte Freiwillige nur sehr eingeschränkt und unter Aufsicht mit Kindern arbeiten sollten, und gar nicht mit Kindern in Extremsituationen, die ein zuverlässiges und professionelles Gegenüber brauchen. In Schulen oder Kindergärten – unter professioneller Anleitung – gibt es durchaus gute Projekte, in denen beide Seiten etwas lernen können.
Freiwilligenarbeit ja oder nein?
Würde ich von Freiwilligenarbeit generell jetzt abraten? Nein, auf keinen Fall. Wie bereits gesagt, ich habe unglaublich schöne Erfahrungen in meiner Zeit als Freiwillige in Ecuador gemacht, die mein Leben in eine ganz andere Richtung gelenkt haben. Auch in meiner Arbeit mit Freiwilligen auf der „Betreuerseite“ habe ich vor allem positive Erfahrungen gemacht und denke, diese Zeit war prägend für viele der jungen Menschen, die mit uns gearbeitet haben. Solange man sich bewusst ist, dass man Freiwilligenarbeit mit einer sehr offenen Einstellung angehen sollte, und bereit sein sollte selbst zu lernen, kann die Zeit im Ausland eine wichtige Rolle spielen! Es gibt eben nur bestimmte Bereiche, in denen ungelernte Freiwillige keine Rolle spielen sollten, und da gehören Waisenhäuser definitiv dazu.
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Mel von Kind im Gepäck (Mittwoch, 06 September 2017 14:14)
Liebe Eva,
das ist echt einmal sehr interessant. An so etwas denkt man ja gar nicht. Andererseits gibt´s natürlich bestimmt auch weltweit eine Menge Häuser die Unterstützung dringend nötig haben. Es ist bestimmt wie immer: man muss sich genau informieren und es ist so schade, dass mit dem Leid anderer sich Leute die Taschen vollstopfen. Unglaublich, aber leider wird sich das wohl nie ändern....
Danke für die Info!
Mel
Ilona (Mittwoch, 06 September 2017 14:24)
Wichtiges Thema! Gut, dass das bei euch aufgegriffen wurde - und auch gut recherchiert wurde!
Katharina (Mittwoch, 06 September 2017 14:41)
Wirklich sehr sehr interessant. Das ist eigentlich der Grund, warum ich bei Dr Unterstützung von Hilfsprojekten immer sehr vorsichtig bin. Auch mit Kleiderspenden, bei denen ja auch bekannt ist, dass sie die kleinen Betriebe vor Ort zerstören können. Bei Waisenhäusern war mir das Thema gar nicht so bewusst. Da ist es umso dramatischer, weil es sicher auch Einrichtungen gibt, die das Geld gebrauchen könnten. Was die kurze Zeit vor Ort betrifft ist das Argument 100 Prozent schlüssig. Danke für die gute Recherche.
Karla (Donnerstag, 21 Dezember 2017 22:56)
Sehr gut geschrieben!
Genauso habe ich es schon vor 5-6 Jahren in Nepal selber erlebt und es hat mich sehr betroffen gemacht.
Man möchte gerne was abgeben, hat man doch so viel Glück gehabt, einfach nur weil man auf dem richtigen Fleck der Erde geboren wurde und dann kommt am Ende das genaue Gegenteil raus.
Das macht traurig.
Jetzt helfe ich hier in Deutschland vor Ort wo ich kann.
Da gibt es auch genug zu tun!